Dass die Christen aus dem Nahen Osten abwandern, ist keine Neuigkeit. Was dies aber für diese verschiedenen Kirchen, für ihre Fort-Existenz in der Diaspora bedeutet, und was das für alteingesessene Kirchen im Westen, für das ökumenische Miteinander und die kulturelle Integration bedeutet, darüber ist wenig bekannt.

Vom 27.-29. September hat der Lehrstuhl für Ökumenische Theologie und orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte der Universität Göttingen eine internationale Tagung zum Thema „Europe and the Migration of Christian Communities from the Middle East“ veranstaltet, bei der solche Fragen näher untersucht wurden. Anlass für diese Tagung war gleichzeitig die Emeritierung von Professor Dr. Dr.h.c.mult. Martin Tamcke, der dem KI und dem Orthodoxiereferat durch Kooperation an verschiedenen Stellen sehr verbunden ist. Die Institutsleiterin Dr. Dagmar Heller wirkte an der Tagung als Moderatorin mit.

Die zahlreichen Vorträge, die hier nicht alle angemessen gewürdigt werden können, deckten eine Vielfalt an Fragen und Problembereichen ab. Zum einen vermittelten sie einen Überblick über die Migrationsgeschichten der Syrisch-orthodoxen, der Koptisch-orthodoxen, der Armenisch-Apostolischen, der Äthiopischen und Eritreischen sowie der Malankara Orthodoxen und der Assyrischen Kirche vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich und den Niederlanden. Aber auch die Probleme griechischer Migranten aus der Türkei nach Griechenland (und umgekehrt) im Zuge des Bevölkerungsaustauschs zwischen beiden Ländern nach dem 1. Weltkrieg, die Integrationspolitik Russlands, die Debatte um den Platz von Muslimen in der deutschen Gesellschaft sowie das Bild, das irakische Christen vom Islam haben, kamen ins Blickfeld.

Wichtige Themen und Problemstellungen zogen sich durch fast alle Beiträge: Eines davon ist die Frage der Integration. Als ein Beispiel für gelingende Integration beschrieb Dr. Chris Sheklian (Nijmegen), wie die Armenische Apostolische Kirche in den Niederlanden ihren Heiligenkalender an lokale Heiligentraditionen anpasst. Eine Herausforderung für die Migranten ist jedoch insbesondere ihr Leben mit mehreren Identitäten, wie Dr. Kai Merten am Beispiel der syrisch-orthodoxen Christen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen, deutlich machte: Sie sind zwar erfolgreich in der deutschen Gesellschaft integriert, aber gleichzeitig nach ihrer alten Heimat orientiert. Die Frage polypolarer Identität machte auch Prof. Dr. Martin Tamcke anhand des griechisch-sprechenden, in Deutschland lebenden Krimiautors mit armenischem Hintergrund, Petros Markaris, deutlich.

Eine weitere Beobachtung ist die Tatsache, dass die Heimatkirchen und die Diasporagemeinden in verschiedenen Fragen unterschiedliche Haltungen einnehmen, die sie gegenseitig polarisieren. Dies betrifft z.B. die Positionierung gegenüber Fragen der modernen (westlichen) Gesellschaft, wie Gaétan du Roy (Nijmegen) am Beispiel der Kopten aufzeigte. Prof. Nelly van Doorn-Harder (Amsterdam) zeigte derartige Unterschiede an der unterschiedlichen Wahrnehmung des ermordeten Bischof Samuel von der koptischen-orthodoxen Kirche, der für die Bildung und Integration einer koptischen Diaspora eine Vorreiterrolle gespielt hatte. Prof. Herman Teule (Löwen) sprach für die Syrisch-Orthodoxe Kirche dezidiert von „zwei verschiedenen Welten“ in der Diaspora und in der Heimatkirche im Hinblick auf die Haltung gegenüber dem Islam: Während die Diaspora aufgrund ihrer früheren Erfahrungen im Heimatland oft anti-islamisch eingestellt ist, bemühen sich die Gemeinden in den Heimatkirchen um ein friedliches Zusammenleben und befürworten den Dialog mit dem Islam. Er machte insgesamt deutlich, dass die Christen im Nahen Osten einerseits auf ihre Diaspora angewiesen sind, dass aber die Gefahr bestehe, dass ihre Gläubigen in der Diaspora ihrer Heimatkirche den Rücken zukehren und die dortige Realität aus den Augen verlieren.

Aufschlussreich war auch die Erkenntnis, dass für einige dieser Gemeinschaften Migration eine gewisse Tradition hat. Prof. Dr. Wolbert Smidt (Jena) zeigte auf, dass Migration in der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche insbesondere in Tigray eine lange Tradition hat, die mit den geographischen Gegebenheiten zusammenhängt.  Er interpretiert die Migration aus Äthiopien als „Reaktion auf ungelöste Konflikte und einen Durst nach Zukunft“. Dr. Baby Varghese (Kottayam) machte deutlich, dass die christliche Präsenz in Indien (Kerala) ein Ergebnis von Migration ist.

Dass manche Migranten ein zwiespältiges Bild von Europa haben, zeigte sich am Beispiel Äthiopien: Während Äthiopier Europa schon seit dem Hochmittelalter als Quelle von Wissen und Erkenntnis nutzten, wurde dieses Bild in der Neuzeit durch die koloniale Eroberung durch Italien getrübt, die dazu führte, Europa als Verräterin zu sehen.

Dies sind Herausforderungen nicht nur für die Migrantengemeinden und ihre Heimatkirchen, sondern auch für die alteingesessenen konfessionellen Kirchen in den Einwanderungsländern. Kenntnisse über diese Kirchen wie auch über ihre besonderen Nöte in der Diaspora zu erwerben, ist daher zum einen eine geschwisterlicher Akt der Nächstenliebe, um ihnen in ihrem Kampf um das Überleben ihrer uralten Traditionen in der modernen Welt beizustehen. Zum anderen dient dieser Austausch der Wahrnehmung des Reichtums der gemeinsamen christlichen Überlieferung, der bewahrt werden sollte. Dazu bildete diese Tagung einen wichtigen Beitrag.